Tanja Dückers im Interview: Religion heute – Kirchenkritik

Tanja Dückers im Gespräch mit Elias Rubenstein über Trennung von Kirche und Staat, Missbrauchsfälle der Kirchenvertreter, Kirchenkritik, Kirchensteuer, Kirchenvermögen in Deutschland, christliche Feiertage und religiöse Verfolgung.

Rubenstein: In wiederkehrenden Zyklen werden Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Wesentlich skandalöser empfinden zahlreiche Personen die freien Rechtsräume und Privilegien, welche die Kirche trotz dieser erschütternden Vorfälle in Deutschland genießt. Sind Ihrer Ansicht nach solche Ansprüche einer sogenannten „Staatsreligion“ in unserer scheinbar aufgeklärten Zeit berechtigt?

Dückers: Nein. Absolut nein. Dass Kirchenrecht über Staatsrecht gesetzt wird und hiermit die seelische und körperliche Unversehrtheit der Jüngsten unserer Gesellschaft fahrlässig gefährdet wird, ist absolut nicht hinnehmbar. Als Anfang des neuen Jahrtausends einige Missbrauchsfälle kirchenintern bekannt wurden, hat Papst Benedikt XVI das Päpstliche Schweigegebot ausgesprochen statt den Fällen nachzugehen. Die Reputation der Kirche war ihm und später auch anderen Kirchenautoritäten wichtiger als die seelische und körperliche Unversehrtheit der – jungen – Mitglieder der Kirche. Der Fisch stinkt vom Kopf her.

Rubenstein: Gibt es aus Ihrer Sicht Bereiche, wo die konstitutive Trennung von Kirche und Staat nicht ausreichend gelebt wird?

Dückers: Ja, die Trennung findet nur auf dem Papier statt. Der Staat bezahlt zum Beispiel die Angestellten von kirchlichen Einrichtungen wie Kindertagesstätten zu 93 %. Kirchliche Schulen werden im Durchschnitt zu 90 % vom Staat getragen. Auch wird die Kirchensteuer vom Staat eingezogen, was nachweislich eine Ersparnis für die Kirchen in Höhe von 1,8 Milliarden Euro bedeutet. Für soziale Zwecke verwendet die Kirche weniger als 10 % der Steuern. Zweidrittel der Kirchensteuer wird für die Gehälter von Pfarrern und anderem Personal benutzt also nur für die Kirche als Institution. Direkt und indirekt über Subventionen erhalten die Kirchen gut 17 Milliarden Euro pro Jahr vom Staat – das ist auch für Nicht-Konfessionell-Gebundene interessant, denn sie finanzieren ob sie wollen oder nicht die Kirchen in großem Maßstab mit. Das muss man wissen. Weitere Zahlen finden sich hier: www.stop-kirchensubventionen.de

Wen dieses wichtige Thema genauer interessiert, sollte auch das Buch des renommierten Politologen Dr. Carsten Frerk „Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland“ lesen. Er konstatiert, dass wir alle egal, ob wir der Kirche angehören oder nicht – über unsere Steuern in etwa doppelt soviel an die Kirchen wie über die Kirchensteuer zahlen.

Rubenstein: In einem säkularen Staat wie Deutschland liegt der Ursprung der meisten Feiertage in den Glaubensdogmen der christlichen Großkirchen. Ist dies Ihrer Meinung nach für eine multireligiöse und multiethnische Gesellschaft vertretbar?

Dückers: Ja, hier stehe ich für eine kulturbewahrende Haltung. In den meisten Ländern gibt es Feiertage, die mit einer religiösen Tradition einhergehen. Man sollte den Menschen hierzulande nicht ihren Ostermontag oder ihren Himmelfahrtstag wegnehmen. Ich kann mich ja auch in einem anderen Land an dort gültige Feiertage anpassen. Aber: Ich bin strikt dagegen, dass die Feiertage ausgeweitet werden und wir irgendwann Feiertage für alle Religionen – also eine Zunahme des Religiösen – bei uns im Alltag zu verzeichnen haben. Was da ist, sollte bleiben – in den meisten Bundesländern sind ja schon viele christliche Feiertage abgeschafft worden, viele Feiertage haben nur noch in Bayern Gültigkeit. Aber bitte nicht weitere religiöse Feiertage.

Hier kommt man in einer globalisierten und mirgrierenden Gesellschaft irgendwann in Probleme. Wieso darf die eine Religionsgemeinscahft einen Feiertag beanspruchen, die andere nicht? Denkbar wäre ein amerikanisches Modell: Nur nachweisliche Angehörige einer Religionsgemeinschaft dürfen sich an ihrem Feiertag frei nehmen – aber Sie ahnen schon, auch hier wird es juristisch schwierig, die eine Religionsgemeinschaft pocht jeden Monat auf einen freien Tag, die andere einmal im Jahr…

Wir brauchen vor allem auch Platz für andere, nicht konfessionelle Feiertage: zum Beispiel möchte ich den guten Vorschlag der in Berlin lebenden Schriftstellerin Priya Basil (UK) aufgreifen und ein Wort für den Europäischen Feiertag (5. Mai: seit 1964 markiert der 5. Mai die Gründung des Europarats im Jahr 1949) einlegen. Ein Tag, an dem wir alle in Europa dieses vereinte Europa und die längste Friedenszeit des Kontinents feiern – und nicht immer nur über „Brüssel“ und die „Bürokratie“ (Diktaturen waren schon immer einfacher zu errichten, mit fast 30 divergenten Ländern gibt es eben etwas zu tun) schimpfen. Es kann nicht nur kirchliche Feiertage geben, wir müssen auch neue Feste feiern können.

Rubenstein: Täglich verringert sich die Zahl der Mitglieder der christlichen Großkirchen in Deutschland. Gleichzeitig wächst die Zahl der Konfessionsfreien als auch der Mitglieder Neuer Religiosität. Worauf führen Sie diese Trendwende zurück?

Dückers: Diese Trendwende besteht schon seit Jahrzehnten. Sicher haben die großen Kirchen hierzulande einen großen Vertrauensverlust hinnehmen müssen. Dazu führte die erschütternd hohe Zahl an Missbrauchsfälle sowie der lange Zeit moralisch beklagenswerte Umgang zumindest der katholischen Kirche mit diesem Thema. Priester, die sich an Kindern vergangen haben, kann man doch nicht einfach nur in eine andere Gemeinde versetzen. Die Katholische Kirche hat sehr lange gebraucht, um sich auch nur halbwegs adäquat mit ihren Verbrechen und Psychopathologien auf diesem Gebiet auseinanderzusetzen und ist auch jetzt noch weit entfernt von einer zufriedenstellenden Aufklärung. Das Zölibat existiert auch weiterhin. Aber die Kirchen haben schon früher einen Mitgliederverlust zu verzeichnen gehabt.

Auf einer übergeordneten, eher soziologischen Ebene als anhand der konkreten Taten oder Unterlassungen der Kirchen kann man konstatieren, dass der Mensch in einer immer sicheren Umgebung lebt und weniger auf überirdische Kräfte hoffen muss. Wissenschaft und Medizin haben uns zu viel längeren Lebenszeiten verholfen, wir wachsen nicht mehr in eine Familie hinein und werden Schuster, weil unsere Familie seit Generationen Schuster hervorbringt, sondern gestalten unser Leben stärker selber. Diese neue Selbstverantwortung führt auch zu neuen Problemen, zu hohen Erwartungen, zu Überforderungssymptomatiken, auch zur alarmierenden Zunahme von narzisstischen Persönlichkeitsstörungen (früher gab es viel mehr zwanghafte und depressive Persönlichkeitsstörungen), aber der Druck, ein höheres Etwas um Hilfe bitten zu müssen, ist weniger vorhanden. Die Menschen optimieren eher sich selber, gehen ins Fitnessstudio statt in die Kirche – sehr überspitzt formuliert.

In einer pluralistischen Gesellschaft mit Religionsfreiheit gibt es natürlich mehr religiöse Angebote – mehr als zu jeder anderen Zeit früher. Um es sarkastisch zu formulieren: im großen bunten kapitalistischen Warenangebot ist auch die Religion in mehreren Verpackungen mit Geschmacksrichtungen für Jedermann im Regal vertreten. Da kann es einen nicht wundern, dass manche Menschen zu dieser oder jener Nischenreligion oder auch Sekte tendieren. So lange sie das Grundgesetz respektieren und niemandem Schaden zufügen, sehe ich kein Problem darin.

Rubenstein: Die Freiheit der Religion bzw. Weltanschauung ist glücklicherweise ein Menschenrecht. Noch vor geraumer Zeit füllte die Inquisition mit der Ketzerverfolgung schauerliche Kapitel in der christlichen Historie. Findet heute noch Verfolgung oder Diffamierung von Andersdenkenden durch kirchliche Instanzen und „Weltanschauungsbeauftragte“ statt?

Dückers: Ja, allenorts, wenn Sie mit „kirchlich“ nicht speziell „römisch-katholisch“, sondern eher allgemein „religiöse Instanzen“ meinen. Heute sind die Christen die weltweit am stärksten verfolgte religiöse Minderheit (die Gründung des christlichen Südsudans nach der systematischen Vertreibung und Ermordung sehr vieler christlicher Sudanesen wäre ein Beispiel). Vielleicht ist dies eine gewisse Ironie der Geschichte.

Tanja Dückers, geboren 1968, lebt seit Abschluss ihres Studiums (Germanistik, Nordamerikastudien, Kunstgeschichte) als freie Schriftstellerin und Publizistin. Sie hat bislang 16 Werke aus den Bereichen Prosa, Lyrik, Essay und Kinderliteratur veröffentlicht. Vor allem ist sie auch eine gesellschaftspolitisch engagierte Schriftstellerin, sie schreibt seit Langem für viele große Zeitungen, u.A. ZEIT Online, Tagesspiegel, SZ, NZZ, taz und andere. Sie ist Mitglied bei Amnesty International, beim PEN, Slow Food und bei ver.di. Webseite: www.tanjadueckers.de