Rolf Schwanitz im Interview: Trennung von Kirche und Staat

Rolf Schwanitz im Gespräch mit Elias Rubenstein über Trennung von Kirche und Staat, Neutralität des Staates, die Verflechtung von Kirche und Staat, Sensibilität bei der Verwendung des Begriffs Sekte, Abschaffung von unzeitgemäßen staatlichen Privilegien der katholischen und evangelischen Kirche, Katalog der Normen und Werte für Weltanschauungs- oder Religionsgemeinschaften, Abschaffung der Staatskirche, Staatsleistung in der Höhe einer halben Milliarde Euro für christliche Großkirchen.

Rubenstein: Das Christentum scheint trotz der Säkularisierung, Multireligiosität und mannigfachen Ethnien einen großen Einfluss in der deutschsprachigen Kultur zu haben. Medial wird häufig der Standpunkt verbreitet, dass Deutschland ein christlicher Staat sei. Kirche und Staat haben offensichtlich historisch gewachsene Beziehungen. Ist ihrer Meinung nach die Trennung von Kirche und Staat vollständig oder eher ein Wunschdenken?

Schwanitz: Es kann keinen Zweifel daran geben, dass Europa insgesamt im Verlaufe seiner Geschichte nicht nur, aber vor allem vom Christentum stark geprägt worden ist. Für Deutschland kommt sicherlich noch hinzu, dass hier eine der Wiegen der Reformation gestanden hat und deshalb bis heute auch die evangelische Kirche stark verwurzelt ist. Ein christlicher Staat ist Deutschland deshalb aber nicht. In Deutschland wurde die Staatskirche 1919 abgeschafft. Unser Grundgesetz garantiert jedem Bürger die freie Wahl seiner Weltanschauung und der Staat selbst ist verfassungsrechtlich zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet. Immer mehr Menschen machen davon Gebrauch und lösen sich auch aus tradierten religiösen Strukturen. Der Anteil der konfessionsfreien Menschen und auch die Zahl derer, die Religionsgemeinschaften den Rücken gekehrt haben, nimmt seit Jahrzehnten beständig zu. Nach letzten Zahlen liegt der Anteil der Konfessionsfreien ohne Religionszugehörigkeit in Deutschland insgesamt bei 36,2 Prozent. Sie stellen hier mittlerweile die größte Einzelgruppe und in den deutschen Großstädten sind sie schon jetzt in der Mehrheit. Das, also ein Anteil der Konfessionsfreien von über 50 Prozent an der Gesamtbevölkerung, wird in absehbarer Zeit auch für Deutschland insgesamt eintreten. Dass demgegenüber die beiden sogenannten Amtskirchen vom deutschen Staat noch immer privilegiert und die Trennung zwischen Staat und Kirche in wichtigen Bereichen nicht vollzogen worden ist, steht auf einem anderen Blatt. Hier wird sich in den kommenden Jahrzehnten aber einiges ändern müssen, wenn wir die Demokratie auch unter geänderten Bedingungen bewahren wollen.

Rubenstein: Die im Grundgesetz verankerte Weltanschauungs- und Glaubensfreiheit bedingt die Neutralität des Staates und damit auch die Säkularisierung. Wieso werden die traditionelle evangelische und römisch-katholische Großkirche verglichen mit kleineren Religionsgemeinschaften in Deutschland privilegiert?

Schwanitz: Man sollte sich zunächst einmal klarmachen, weshalb wir diese Neutralität des Staates brauchen und wofür sie wichtig ist. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung erklärt, der demokratische Staat müsse die Heimstatt aller Bürger sein unabhängig von deren Weltanschauung oder Glauben. Der Staat muss für jeden Bürger die freie Wahl der Weltanschauung sicherstellen. Das kann er aber nur, wenn er selbst weltanschaulich neutral bleibt und dem Bürger weder direkt noch durch die Hintertür irgendeine Weltanschauung oder Religion nahelegt. Die weltanschauliche Neutralität des Staates ist deshalb eine zentrale Bedingung und Voraussetzung für die Religions- und Weltanschauungsfreiheit überhaupt. Wird diese Neutralität verletzt, wird auch ein wichtiges Grundrecht gefährdet und die Demokratie damit insgesamt getroffen. Das sehen Vertreter der großen vom Staat privilegierten Kirchen natürlich oft anders, weil sie ihren Glauben für gut und auch für Nichtgläubig für nutzbringend halten. Es geht aber hier nicht um gut oder schlecht, worüber man sicher auch lange streiten könnte, sondern es geht um die garantierte Freiheit des Einzelnen, die auch von Gutmeinenden in Staat und Kirchen nicht beschnitten werden darf.

Rubenstein: Christliche Großkirchen sind dem Staat näher als andere kleinere Religionsgemeinschaften. Sollte nicht für alle religiösen Gruppierungen der gleiche Abstand vom Staat gelten?

Schwanitz: Seit fast einhundert Jahren besteht in Deutschland ein Verfassungsgebot zur Ablösung der besonderen Staatsleistungen, die noch immer wegen der Säkularisation zu Napoleons Zeiten ausschließlich an die beiden christlichen Großkirchen gezahlt werden. Im Jahr rund eine halbe Milliarde Euro. Dieses Verfassungsgebot wird systematisch ignoriert – von der Politik ebenso, wie von den Kirchen selbst. Außerdem gewährt der Staat den Kirchen noch immer viele überkomme und neue Privilegien bei Steuern und Abgaben, im Arbeitsrecht, beim Diskriminierungsschutz, bei der Kirchensteuer, im Medienrecht und in anderen Bereichen, die für eine freie und plurale Demokratie unzeitgemäß sind und aufgehoben werden sollten. Natürlich muss es in dieser sich wandelnden Gesellschaft darum gehen, dass der Staat weltanschaulich neutral wird und einen gleichen Abstand zu allen Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften findet. Nur so kann die Freiheit des Einzelnen, der innere Frieden und die Akzeptanz in dieser vielfältigeren Demokratie auf Dauer bewahrt werden. Unübersehbar ist aber auch, dass eine einfache Ausdehnung alter Vergünstigungen auf andere Religionsgemeinschaften nicht zum Ziel führen kann. Denn der entscheidende Maßstab ist nicht die Gleichbehandlung aller religiösen Gruppierungen durch den Staat, sondern die Gleichbehandlung der Menschen selbst. Das kirchliche Arbeitsrecht etwa, das in Deutschland Millionen Beschäftigte von grundlegenden Arbeitnehmerrechten – zum Beispiel vom Streikrecht, vom Recht auf Betriebsräte oder vom Diskriminierungsschutz – ausschließt, kann nicht dadurch geheilt werden, dass es auch auf andere Religionsgemeinschaften erstreckt wird. Das kirchliche Arbeitsrecht muss schlicht und einfach abgeschafft werden, damit auch die Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen volle Arbeitnehmerrechte bekommen. Deshalb kann es bei der Neujustierung des Weltanschauungsrechts nur um beides gehen: um die Abschaffung von unzeitgemäßen staatlichen Privilegien der Kirchen und um das finden einer neuen Äquidistanz des Staates zu allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften.

Rubenstein: Der Begriff „Sekte“ wird oftmals politisch oder medial verwendet um religiöse Minderheiten oder Mitbewerber zu stigmatisieren. Wird hierbei der Staat als verlängerter Arm der Kirche missbraucht um an der sogenannten „Ketzerverfolgung“ der Kirche mitzuwirken?

Schwanitz: Ich rate bei der Verwendung des Begriffes „Sekte“ zu großer Zurückhaltung und Sensibilität. Wer die Weltanschauungs- und Religionsfreiheit des Einzelnen wirklich ernst nimmt, der sollte herabwürdigende Begrifflichkeiten, die sich an Kategorien wie alt und neu oder an religiöse Mehrheiten- und Minderheitengemeinschaften orientiert, eher meiden. Der Staat hat zu akzeptieren, dass sich Menschen in Ausübung ihrer Weltanschauungsfreiheit auch zu neuen Weltanschauungs- oder Religionsgemeinschaften zusammenschließen. Allerdings habe sich diese alten und neuen Gemeinschaften auch an unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu orientieren. Der Katalog der Normen und Werte einer Weltanschauungs- oder Religionsgemeinschaft muss deshalb mit den Grundrechten des Grundgesetzes (Artikel 1 bis 19) und mit den nicht änderbaren Prinzipien des Artikels 20 (Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Sozialstaat, Bundesstaat) übereinstimmen. Das muss in der Demokratie der Maßstab sein, nach dem solche Gemeinschaften beurteilt werden. Und dies müssen die Gemeinschaften sicherstellen, wenn sie in unserer Gesellschaft aktiv werden und Akzeptanz erwerben wollen.

Rolf Schwanitz, geboren 1959, absolvierte das Hochschulstudium Wirtschaftswissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie das Jurastudium an der Humboldt-Universität Berlin und war wissenschaftlicher Assistent an der TH Zwickau. Schwanitz war Parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium der Justiz, Mitglied im Deutschen Bundestag, Staatsminister beim Bundeskanzler für die Angelegenheiten der neuen Länder, Staatsminister beim Bundeskanzler für die Bund-Länder-Angelegenheiten und Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Gesundheit. Schwanitz wurde mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und der Willy-Brandt-Medaille ausgezeichnet.